
Tödliche Schlangenbisse: Mann lässt sich von gefährlichen Schlangen beißen, um anderen das Leben zu retten
Hunderte Male wurde Tim Friede von giftigen Schlangen gebissen. Nun soll aus dem Blut des Mannes ein universelles Gegengift entwickelt werden
Es gibt diesen Spruch von Nietzsche: „Was einen nicht umbringt, macht einen nur stärker.“ Psychologisch mehr als umstritten, wird der Satz gern von Menschen ins Feld geführt, die sich selbst unnötig in Gefahr bringen. Der Amerikaner Tim Friede ist so jemand. Der gelernte Lkw-Mechaniker und Schlangenliebhaber aus Wisconsin hat sich in den vergangenen 18 Jahren Hunderte Male freiwillig von gefährlichen Schlangen wie Kobras, Mambas oder Klapperschlangen beißen lassen. Und er hat sich selbst das Gift in steigenden Dosen verabreicht.
Friedes hatte sich immer schon gern mit gefährlichen Schlangen umgeben. Sein Plan war zunächst nur, selbst immun zu werden gegen jene Gifte, die jedes Jahr vermutlich bis zu 138.000 Menschen weltweit töten. Mit der Zeit realisierte er jedoch, dass die Schutzstoffe, die sein Körper mit jedem der gefährlichen Selbstversuche bildet, auch anderen Menschen helfen könnten. Seitdem hat der Hobbyforscher eine Idee: ein Antiserum zu entwickeln.
Fast wäre er gestorben
Im Jahr 2011 wären ihm die selbst zugefügten Schlangenbisse, die man sich auch auf YouTube anschauen kann, jedoch fast zum Verhängnis geworden: Nachdem er zweimal kurz hintereinander von Kobras gebissen wurde, fiel er ins Koma. Zwar hatte er schon einen gewissen Schutz gegen die Schlangen aufgebaut. An den enormen Mengen Gift, die sich nach zwei Bissen in seinem Körper ausgebreitet hatten, wäre er jedoch fast gestorben.
Bald wurden auch Forschende auf Tim Friede und seine Videos aufmerksam. 2017 nahm der Immunologe Jacob Glanville Kontakt auf. Die beiden Männer beschlossen, zusammenzuarbeiten.
„Das Spannende an dem Spender war seine einmalige Immungeschichte“, sagt Glanville. „Er hatte über einen Zeitraum von fast 18 Jahren Hunderte von Bissen und Selbstimpfungen mit eskalierenden Dosen von 16 Arten sehr tödlicher Schlangen vorgenommen, die normalerweise ein Pferd töten würden.“
Ein Cocktail für 19 der giftigsten Schlangen
Mittlerweile hat Glenville das Start-up Centivax gegründet, bei dem Friede nun als Schlangenexperte geführt ist. Wichtigstes Forschungsobjekt: Friede selbst. In seinem hyperimmunen Blut identifizierten die Forschenden breit neutralisierende Antikörper. In Kombination mit einem spezifischen Enzym-Hemmer wirkte der Cocktail in ersten Mausexperimenten gegen das Gift von 19 der weltweit giftigsten Schlangen.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zählt Schlangenbisse zu den am meisten vernachlässigten Krankheiten des 21. Jahrhunderts. Jedes Jahr werden rund fünf Millionen Menschen von Schlangen gebissen – viele sterben, doch noch deutlich mehr verlieren Gliedmaßen, werden entstellt oder leiden anschließend an Behinderungen. Die meisten Opfer leben in Afrika und Südostasien. Je ärmer eine Bevölkerung ist, umso wahrscheinlicher wird das tödliche Aufeinandertreffen von Mensch und Tier. Rund ein Viertel der Toten sind Kinder: In den kleinen Körpern ist das Gift besonders gefährlich.
Nun ist es nicht so, dass es bislang keine Gegengifte gäbe, sogenannte Antivenome. Sie werden von Tieren wie Pferden oder Schafen gewonnen, die mit dem Gift einer Schlangenart immunisiert wurden. Allerdings gibt es weltweit etwa 600 Arten giftiger Schlangen, und die Antivenome wirken in der Regel nur gegen eine einzige Schlangenart oder wenige verwandte Schlangen. Nach einem Biss gilt es daher erst einmal, die richtige Schlange zu identifizieren, was oft nicht gelingt.
Drei Bestandteile braucht das Gegengift
Antivenome, die gegen mehrere Schlangengifte wirken, könnten die Behandlung von Schlangenopfern deutlich vereinfachen. Auch wären sie für Hersteller kommerziell wieder interessanter. Die meisten Pharmafirmen haben sich in den vergangenen Jahren aus der Entwicklung von Gegengiften zurückgezogen.
Um so ein breites Antivenom zu entwickeln, erstellte das Forschenden-Team von Centivax zunächst einen Testplan mit 19 der tödlichsten Schlangen der Kategorie 1 und 2 der Weltgesundheitsorganisation. Sie stammen allesamt aus der Familie der Elapiden, der Giftnattern. Die Gruppe soll etwa die Hälfte aller giftigen Arten umfassen, wie etwa Korallenschlangen, Mambas, Kobras, Taipane und Kraits.
Anschließend isolierten die Forschenden Antikörper aus dem Blut des Spenders und testeten die Schutzstoffe an zuvor vergifteten Mäusen. Am Ende arbeitete das Team mit drei Hauptkomponenten: zwei aus Tim Friedes Blut isolierten Antikörpern und dazu ein kleines Molekül namens Varespladib. Dieser Toxininhibitor gewährt bekanntermaßen Schutz vor weiteren Schlangenarten.
Die Schlangenbisse haben dafür gesorgt, dass Tim Friede Antikörper entwickelt hat, die ihn vor dem Gift der Schlangen schützen. Diese Abwehrstoffe haben Forschende nun genutzt, um ein breit wirksames Gegengift herzustellen und an Mäusen zu testen.
© GLANVILLE ET AL. / CELL
Weitere Tests sollen folgen
„Als wir bei den drei Komponenten angelangt waren, hatten wir eine beispiellose Bandbreite von vollständigem Schutz für 13 der 19 Arten – und teilweisen Schutz für die übrigen, die wir untersuchten“, sagt Glanville. Die Studie der Forschenden ist heute im Fachblatt Cell erschienen.
Doch nicht nur die breite Wirkung ist ein Gewinn: „Bei den in der Studie gewonnenen Antikörpern handelt es sich um humane Antikörper. Das ist ein deutlicher Vorteil gegenüber den aus Tieren gewonnen Antikörpern, weil bei der Gabe von Tiereiweiß (Antikörper sind Eiweiße; Anm. d. Red.) schnell allergische Reaktionen entstehen können“, sagt Benno Kreuels, Leiter der Arbeitsgruppe Vernachlässigte Krankheiten und Vergiftungen am Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin (BNITM) in Hamburg.
Nachdem sich der Antivenom-Cocktail in Mausmodellen als wirksam erwiesen hat, will das Team seine Wirksamkeit in der Praxis testen: Indem es das Antivenom zunächst Hunden verabreicht, die wegen Schlangenbissen in Tierkliniken in Australien eingeliefert werden. Außerdem wollen sie ein Gegengift für die andere große Schlangenfamilie, die Vipern, entwickeln.
Jahre bis zum Einsatz in Menschen
„Wir drehen jetzt an der Kurbel und stellen Reagenzien her, um nach und nach herauszufinden, welcher Cocktail mindestens ausreicht, um einen breiten Schutz gegen Viperngift zu bieten“, sagt der Hauptautor Peter Kwong, Professor am Vagelos College of Physicians and Surgeons der Columbia University und ehemaliger Mitarbeiter der National Institutes of Health. „Das angedachte Endprodukt wäre ein einziger Pan-Antivenom-Cocktail.“ Möglicherweise, stellen die Forschenden auch zwei her. Einen für die Elapiden und einen für die Viperiden, da es in einigen Gebieten der Welt nur die eine oder die andere Art gibt.
Bis es so weit ist, gilt es für Kreuels jedoch noch einige Hürden zu überwinden: „Es ist fraglich, wie gut die Erkenntnisse auf den Menschen übertragbar sind, da sie ihre Experimente mit Mäusen durchgeführt haben.“ Zudem hätten die Mäuse das Gegengift bereits nach zehn Minuten bekommen. „Es bleibt zu klären, wie wirksam das Gegengift ist, wenn die betroffene Maus es erst nach Stunden erhält“, so Kreuels. Denn das ist die Zeit, die in der Regel vergehen würde, bis Betroffene eine medizinische Einrichtung gefunden hätten. Außerdem müsse die passende Dosis für die Anwendung beim Menschen noch ermittelt werden.
Bis Menschen mit so einem Gegengift geschützt werden können, dürfte es trotz der überzeugenden Studienergebnisse, daher noch Jahre dauern.