
Liverpool. Das sind die Beatles, Humor und vor allem Fußball. Das Unglück vom Dienstag trifft die Arbeiterstadt mit Herz ins Mark – und lässt sie näher zusammenrücken.
Ausgerechnet Liverpool. Eine Stadt wie eine überschwängliche Umarmung. Eine Metropole, die Irland näher ist als England, geografisch wie menschlich. Die den Fußball im Blut hat wie sonst nur Madrid oder Rio, und die Musik sowieso. Dass gerade hier, und ausgerechnet an dem Tag, als die ganze Stadt in Rot den Erfolg ihres Teams feierte, ein Wagen in die fröhliche Menge fuhr, um Blut zu vergießen, das trifft diese Stadt ins Mark. Dass der Täter einer von ihnen war, ein „Scouser“, wie sie hier am Fluss Mersey sagen, macht die Tat noch unbegreiflicher.
Wenig ist bisher bekannt über den Täter und dessen Motivation, außer dass die Polizei einen Terroranschlag ausschließt. Ein weißer Mann im Alter von 53 Jahren sei verhaftet worden, hieß es kurz nach dem Anschlag, er sei der mutmaßliche Fahrer. Schon wollen Rechtsextreme Kapital aus der Tragödie schlagen, verbreiteten im Internet kurz nach dem Anschlag Gerüchte, die Polizei verheimliche, wer der wahre Täter sei. Ein weißer Mittfünfziger aus der Gegend passt nicht ins Konzept all jener, die jede Tat, jedes Ereignis für ihre polarisierenden fremdenfeindlichen Ideologien missbrauchen.
Liverpool ist Aus- und Einwandererstadt
Vor knapp einem Jahr war es diesen Keyboard-Kämpfern gelungen, einen Anschlag ganz in der Nähe in landesweite Krawalle zu verwandeln. Im Juli erstach ein 17-Jähriger im Seebadeort Southport, der für viele zum Großraum Liverpool gehört, drei kleine Mädchen und verletzte acht weitere schwer. Bewusst gestreute Falschinformationen über Herkunft und Religion des Täters füllten damals binnen weniger Stunden das Informationsvakuum, das Polizei und gesetzliche Vorschriften hinterließen. Auch deshalb diesmal die rasche Reaktion der Polizei zur Identität des Täters.
Ohnehin sind die rechtsradikalen Populisten bei vielen in Liverpool an der falschen Adresse. Liverpool ist Aus- wie Einwandererstadt. Lennon, McCartney, alles irische Namen, hier kamen sie und gingen, schon immer. Die Stadt von Seefahrern, Schiffbauern und Händlern wurde im 18. Jahrhundert mit dem Sklavenhandel kurz unanständig reich, heute erinnert das „International Slavery Museum“ in den Liverpool Docks an diese beschämende Episode.
Liverpool exportierte und exportiert seine Kultur in alle Welt – mit den Beatles kamen Gerry and the Pacemakers, nach ihnen Frankie Goes To Hollywood, Elvis Costello, The Zutons, The La’s – die Liste ist lang. Das Liverpooler Schauspiel-Ausnahmetalent Stephen Graham, bekannt aus dem Netflix-Welterfolg „Adolescence“, entdeckte und förderte Jodie Comer, ihrerseits Ausnahmetalent und berühmt seit dem Welterfolg „Killing Eve“. Beide, obschon Meister im Imitieren selbst abenteuerlicher Dialekte, legten ihren melodischen „Scouse“-Akzent nie ab. In Liverpool wäre solche Affektiertheit verpönt.
Jeder hier bleibt ein Leben lang Mitglied der Arbeiterklasse
In Liverpool, so erklärte der Comedian John Bishop einmal, besage ein ungeschriebenes Gesetz, dass in jeder Familie zumindest einer einen Job haben müsse, für den er einen Lieferwagen brauche. Im Herzen bleibt ein Scouser immer Mitglied der Arbeiterklasse, ob er heute in Tech, den Medien oder gar als Oberster Staatsanwalt arbeitet – oder aber, das andere Extrem, wie viele in der Region langzeitarbeitslos ist. Fast jedes dritte Kind im Großraum Liverpool wächst heute in Armut auf. Auch das ist Liverpool. Die Kriminalität in den Außenbezirken ist hoch, so wie im benachbarten Manchester. Mit dem verbindet Liverpool eine freundliche Rivalität, doch die Liverpooler nehmen ihr zweifellos hartes Schicksal mit mehr Humor als die verbisseneren „Mancunians“. Selten erlebte die Welt einen fröhlicheren, ungetrübteren ESC als in Liverpool vor zwei Jahren. Die Stadt veranstaltete ihn damals in Vertretung der von Russland angegriffenen Ukraine, die Briten hatten im Jahr zuvor bei dem Wettbewerb nur Rang zwei belegt.
„Don’t mess with scousers!“ – „Legt euch nicht mit Liverpoolern an!“, schrieben sie gestern in den sozialen Medien, wo Videos liefen von den Fans, die den Wagen umringten, um ihn zum Anhalten zu zwingen, ohne zu wissen, ob darin vielleicht ein Selbstmord-Attentäter mit Sprengstoffweste sitzt. Dass man sich mit Liverpool nicht straflos anlegt, erfuhren einst Rupert Murdoch und eine seiner erfolgreichsten Zeitungen, das Revolverblatt „The Sun„. 1989, nach der Tragödie im Fußballstadion Hillsborough in Sheffield, verbreitete die Zeitung jahrelang Lügen und aggressive Anti-Fan-Rhetorik, um die Schuld der Polizei an der von ihr verursachten Katastrophe zu vertuschen, in der 96 Liverpool-Fans ihr Leben verloren hatten und viele Hunderte verletzt worden waren. Mit einer groß angelegten Kampagne zum Boykott der Zeitung sorgten aufgebrachte Fans und Angehörige der Hillsborough-Opfer dafür, dass man bis heute in Liverpool Ausgaben der „Sun“ vergeblich sucht.
In Liverpool hassen sie Boris Johnson – und adoptierten Jürgen Klopp
Die Abwesenheit der „Sun“ wiederum könnte dazu beigetragen haben, dass beim Brexit-Referendum im Juni 2016 in Liverpool 58 Prozent für den Verbleib Großbritanniens in der EU stimmten, während vergleichbare Großstädte wie Sunderland Brexit-Mehrheiten von mehr als 60 Prozent verzeichneten. Das zumindest glauben Akademiker. Eine Studie ergab später, dass mit dem Boykott der Europa-feindlichen „Sun“ nach 1989 eine schrittweise Konvertierung der Bevölkerung Liverpools von EU-Gegnern zu latenten Befürwortern des Handelsblocks eingesetzt habe.
Liverpool im Siegestaumel: Eine ganze Stadt feiert die Premier-League-Sieger FC Liverpool
© Owen Humphreys
Vielleicht aber haben die Liverpooler schlicht einen gut funktionierenden Bullshit-Detektor. Boris Johnson, damals noch Chefredakteur des konservativen Magazins „The Spectator“, schrieb 2004 in Anspielung auf das Hillsborough-Unglück, die Stadt Liverpool „suhle sich in ihrem Opferstatus“. Die Liverpooler verziehen ihm nie. Mit Jürgen Klopp hingegen schlossen sie einen Deutschen ins Herz, der es mit der Leidenschaft, der Energie und dem Humor der Scouser aufnehmen konnte. Er war neun Jahre lang Manager des FC Liverpool, sah in der Zeit Premier Boris Johnson kommen und gehen, nicht einmal zwei Jahre hielt der sich im Amt. In Liverpool hätten sie Klopp zu Johnsons Nachfolger gewählt, wäre das möglich gewesen, keine Frage.
„You’ll never walk alone“, „Du gehst nie allein“ ist seit der Hillsborough-Katastrophe die Hymne des FC Liverpool. In Liverpool werden sie auch die Tat vom Montag aufarbeiten. Und zwar wie immer gemeinsam.