
Forscher arbeiten an einer Abnehmpille für Diabetiker und Adipöse ohne Nebenwirkungen wie Übelkeit oder Muskelschwund. Eine Studie ist vielversprechend, aber es gibt offene Fragen.
Wir haben ein ziemlich gewichtiges Problem. Fast die Hälfte der erwachsenen Weltbevölkerung über 25 Jahre ist übergewichtig oder gar adipös. Das sind mehr als doppelt so viele wie noch vor 30 Jahren. Was sich im Zuge dessen noch verdoppelt hat? Die Rate der Menschen, die an Diabetes leiden. Auch deshalb war die Hoffnung, die mit Medikamenten wie Wegovy und Ozempic verbunden war, gigantisch. Tatsächlich ermöglichen die Medikamente einen Gewichtsverlust, von dem andere Therapien nur träumen können. Zwischen zehn und 15 Prozent können adipöse Menschen gut abnehmen – zumindest so lange sie immer weiter spritzen. Patienten mit Typ-2-Diabetes schützen die Mittel vor zu starken Schwankungen des Blutzuckerspiegels, außerdem reduzieren sie das Risiko für Folgeerkrankungen.
Und doch kommen die Medikamente nicht ohne Nebenwirkungen. Wer so schnell viel Gewicht verliert, reduziert nämlich nicht nur seine Fettpolster. 25 bis 40 Prozent der durch die Abnehmspritzen verlorenen Kilos entfallen auf den Abbau von fettfreier Masse, davon ein beträchtlicher Teil Muskelmasse. Das ist deutlich mehr als bei einer herkömmlichen Diät. So ein Muskelschwund kann im schlimmsten Fall zu Stürzen, Knochenbrüchen und einer höheren Gebrechlichkeit führen.
Die erste Phase ist abgeschlossen
Dazu kommen Nebenwirkungen wie etwa Übelkeit, Erbrechen, Durchfall oder Verstopfung, sowie ein paar seltene, aber ernstere Komplikationen. Auch das ist ein Grund, warum mehr als die Hälfte der Patienten die Therapie im ersten Jahr abbrechen. Längst wird in den Laboren der Welt daher an Alternativen gearbeitet. Eine kommt aus Schweden von Forschern des Karolinska-Instituts und der Universität Stockholm. Das Mittel ist noch in der Entwicklung, hat jedoch schon die erste Phase der klinischen Studien abgeschlossen. Veröffentlicht wurden die Ergebnisse in der Fachzeitschrift „Cell“.
Die Tablette soll den Blutzuckerspiegel senken und die Fettverbrennung steigern – und zwar ohne negative Auswirkungen auf den Appetit oder die Muskelmasse. Denn sie hat einen völlig anderen Wirkmechanismus als etwa Ozempic, das man sich jede Woche unter die Haut spritzt.
GLP-1-Abnehmspritzen wie Ozempic beeinflussen das Hungergefühl über Signale zwischen Darm und Gehirn. Die neue Substanz, die bislang noch schlicht ATR-258 genannt wird, aktiviert stattdessen den Stoffwechsel in den Skelettmuskeln, indem sie an eine bestimmte Klasse von Rezeptoren bindet. „ATR-258 ahmt die Wirkung von körperlicher Bewegung nach“, sagt Tore Bengtsson dem stern. Bengtsson ist Professor am Institut für Molekulare Biowissenschaften des Wenner-Gren-Instituts der Universität Stockholm und einer der Forscher hinter der Studie. „Sie aktiviert selektiv einen Signalweg im Skelettmuskel, der die Glukoseaufnahme und Proteinsynthese fördert.“
Abnehmpille führt in Tierversuchen zu signifikantem Fettabbau
Auf diese Weise lässt sich ganz unabhängig von Insulin der Blutzucker senken. Das Problem ist: Würde man diese Rezeptoren im gesamten Körper aktivieren, käme es zu einem gefährlichen Anstieg der Herzfrequenz und wahrscheinlich auch gefährlichen Herzrhythmusstörungen. Daher haben die Forscher ein Molekül entwickelt, dass gezielt die Rezeptoren in der Muskulatur aktiviert.
„In Tierversuchen hat die Behandlung die Blutzuckerkontrolle deutlich verbessert und zu einem signifikanten Fettabbau bei gleichzeitiger Erhaltung oder Zunahme der Muskelmasse geführt“, berichtet Bengtsson. Nebenwirkungen, die mit den heutigen GLP-1-basierten Medikamenten verbunden sind, seien dabei nicht aufgetreten.
Weitere Studien müssen folgen
In einer kleinen klinischen Phase-1-Studie mit 48 gesunden Probanden und 25 Menschen mit Typ-2-Diabetes wurde die Behandlung zudem gut vertragen. Ob sie bei Adipösen und Menschen mit Diabetes auch wie erhofft anschlägt, lässt sich jedoch erst sagen, wenn viel mehr Patienten untersucht wurden. Der nächste Schritt für die Wissenschaftler ist daher eine größere klinische Phase-II-Studie.
Danach erst folgt die Phase-III-Studie. Dabei werden meist Patientinnen und Patienten, die die zu untersuchende Behandlung erhalten, mit einer Kontrollgruppe verglichen, die eine andere Behandlung erhält. Erst wenn all diese klinischen Phasen durchlaufen sind, wird man wissen, ob das Mittel wirklich eine Hilfe für Menschen mit Adipositas und Diabetes ist.
Die Stockholmer sind jedoch nicht die Einzigen, die an einer Alternative zu GLP-1-Medikamenten arbeiten. Einen anderen Ansatz stellten Wissenschaftler im vergangenen Jahr im Fachblatt Nature vor. Forscher der Universität Kopenhagen beschrieben darin einen weiteren Wirkstoff, der den Appetit ohne Verlust von Muskelmasse oder Nebenwirkungen wie Übelkeit und Erbrechen senken könnte. Untersucht wurde das Mittel jedoch bislang erst im Tiermodell.