morgen|stern: EU-Gipfel, der Harzer Brocken der Spitzendiplomatie. Die Lage am Morgen

  • Juni 26, 2025

Europa macht sich selbst etwas vor. Was Merkel an der Kanzlerschaft vermisst. Ein „Kommunist“ greift nach New York. Und was sonst heute noch wichtig wird.

Liebe Leserin, lieber Leser,

haben Sie Kopfschmerzen? Ist Ihnen übel? Fühlen Sie sich schlapp? Wenn ja, wage ich die Ferndiagnose: Sie sind vermutlich höhenkrank. Kein Wunder bei all den Gipfeltreffen in letzter Zeit. 

Wenn Ihnen schon schwindelig ist, wie mag es da unserem armen Bundeskanzler gehen? Zeit zum Durchschnaufen hat der nämlich nicht, gleich heute steht der nächste Top-Termin an: Die 27 Staats- und Regierungschefs der EU kommen in Brüssel zusammen.

Zwar ist die Luft in Belgien bei weitem nicht so dünn wie gestern in Holland oder gar vergangene Woche in Kanada. Der abrupte Höhenunterschied dürfte Merz allerdings zu schaffen machen. Denn, wenn die G7 der Mount Everest und die Nato der K2 war, dann ist der EU-Gipfel der Harzer Brocken der Spitzendiplomatie. 

Es geht wieder um die Ukraine, wieder um Israel, wieder um Aufrüstung, sprich: wieder um die gemeinsame Linie. Doch, selbst wenn die Europäer die trotz Knotenbinder Viktor Orbán finden: Wen interessiert es? 

Der Bedeutungsverlust der Alten Welt war selten so deutlich. Und die vielleicht letzte Trump-freie Zone bietet keine Bühne für Großes. Dabei hätte die EU durchaus das Zeug zur Insel der Seligen. Nur sind ihre gewählten Gestalter völlig ideenlos. Stattdessen warten sie verzweifelt auf den Erlöser. Auf den starken Mann, der Europa Kraft seiner Gravitas eigenhändig zurück in die erste Reihe hievt. Doch der wird nicht kommen – das ist auch gut so. Schließlich steckt auch in einem Anti-Trump viel Trump.

Nein, bevor Machtmänner wie Putin, Xi oder eben Trump die Europäische Union wieder ernst nehmen, müssen es die Europäer erst einmal selbst tun. Doch, solange Brüssel dieses hässliche Bürokratiemonster ist, das durch Klüngel statt Können gelenkt wird, winken die Europäer ab. Es ist schwer, sich für etwas zu begeistern, was man nicht versteht. 

Koalitionskrach über Mindestmaß?

Im Gegensatz zu vielem, was aus Brüssel herüberschwappt, hätte das, was gerade in Berlin auf dem Verhandlungstisch liegt, echte Auswirkungen auf den echten Alltag echter Menschen.

Bis Montag muss eine Kommission entscheiden, wie hoch der Mindestlohn ab 2026 sein soll. Argumente für und gegen die 15-Euro-Marke gibt es reichlich, Grund zum Streiten folglich umso mehr. Einigen sich die schwarz-roten Partner nicht sehr bald, endet das im ersten handfesten Ehekrach. 

Wie die Chancen für ein „Ende gut, alles gut“ stehen, darüber diskutieren die stern-Politikchefs im neuen „5-Minuten-Talk“:

Sehnsucht nach der Kanzler-Kantine

Ich weiß ja nicht, wie lange Sie es noch bis zur Rente haben, lieber Leser. Wenn ich denn überhaupt eine bekomme (einsetzender Stammtischapplaus), dann erst in ein paar Jahrzehntchen. 

Aber, überlegen Sie doch mal: Was werden Sie an ihrem Job vermissen? Das Gefühl, gebraucht zu werden? Den miesen Kaffee mit Kollegen? Die Bedeutung von Feierabend?

Angela Merkel vermisst die Kantine. Aber nicht allein wegen des netten Service oder des „Kraftriegel für Facharbeiter“-Freitags. Sondern wegen der schönen Deko. Jeden Tag frische Blumen gab’s da wohl. Ja ist denn das zu fassen! „Man ist da reingekommen, man hatte einen schweren Tag vor sich, und es war immer wirklich so toll geschmückt“, schwärmt die 70-Jährige bei einer Preisverleihung für ihre Biografie.

Die habe ich nicht gelesen. 736 Seiten, ein Gutteil davon wohl ziemlich dröge, wie man mir sagte. Ich warte auf den Film. In der Hauptrolle: Matthias Schweighöfer. Wer sonst?

Immerhin leistete die Kanzlerin a.D. mit der Wahl des hochtrabenden Buchtitels („Freiheit“) einen überraschenden Beitrag zum Abbau der deutschen Understatement-Kultur. Danke, Merkel!

New Yorks Hoffnung: ein muslimischer „Kommunist“?

Wenn Donald Trump jemanden als „kommunistischen Irren“ beschimpft, heißt das erst einmal nur, dass derjenige beim „Mensch ärgere Dich nicht“ vermutlich zum gleichmäßigen Vorziehen der Figürchen neigt.

Besagter Kommunist Zohran Mamdani dürfte sich über den präsidialen Diss freuen. Schließlich gilt ein solcher unter Demokraten fast schon als Ritterschlag.

Ein bisschen was ist aber tatsächlich dran. Mamdani gilt unter den tendezlinken Demokraten als Flügelspieler. Ein 33-jähriger, muslimischer Sozialist als Bürgermeister der größten Stadt des Landes? Geht das? Ja, das geht. Schließlich hat Mamdani nach seinem überraschenden Sieg gegen Routinier Andrew Cuomo bei den parteiinternen Vorwahlen die größte Hürde bereits genommen – New York ist Hochburg der Demokraten. Außerdem reitet „Donald Trumps größten Schreck“, wie er sich selbst adelt, gekonnt die von Urgestein Bernie Sanders losgetretenen Links-Außenwelle. 

Meine Kollegin Mirjam Bittner hat sich den Mann einmal genauer für Sie angeschaut:

Was heute sonst noch ansteht

Die Vereinten Nationen veröffentlichen ihren Weltdrogenbericht. Gut getimt. Schließlich ist heute Internationaler Tag gegen Drogenmissbrauch.Der Bundestag verlängert nachher voraussichtlich die Mietpreisbremsebis 2029. Die wäre Ende des Jahres ausgelaufen. Was machen wir nur mit all dem übrigen Geld?In Bonn endet heute nach zehn Tagen die Verhandlungen zur Vorbereitung der nächsten Weltklimakonferenz in Brasilien. Mehr als 5000 Experten und/oder Politiker waren für diesen „wichtigen Realitätscheck“, wie Klima-Staatssekretär Jochen Flasbarth das Event nannte, in die ehemalige Hauptstadt gekommen.Nach mehr als 30 Zeugen in sechs Wochen stehen im Prozess gegen Sean Combs, alias P. Diddy, heute die Schlussplädoyers an. Wir halten Sie weiterhin im Liveblog auf dem Laufenden.

Die fernöstliche Weisheit des Tages 

Es ist schon absurd, wenn die bekannteste Sehenswürdigkeit eines Landes die Grenze zum Nachbarland ist. Doch genau so ist es. Ein Tagestrip an den 38. Breitengrad gehört hier in Südkorea einfach dazu. Und wer bin ich, mich gegen den Mainstream zu stellen?

Für die halbtägige Tour von Seoul ins Niemandsland zahlen Sie je nach Anbieter und Programm umgerechnet um die 30 Euro. 

Das Versprechen: ein Blick durchs Schlüsselloch auf die bekannteste Diktatur der Welt. Die Realität: eine siebenstündige Fließbanderfahrung inklusive Souvenirjadg. 

Höhepunkt ist der Moment, wenn Sie nach 50 Minuten arktisch-klimatisierter Busfahrt den Militärcheckpunkt ansteuern und ein gelangweilter, 20-jähriger Wehrdienstler ihren Reisepass kontrolliert. Und selbst das wirkt mehr wie Gänsehaut-Theater für Touristen als sicherheitspolitische Notwendigkeit. 

Stacheldraht sollte kein Postkartenmotiv sein

Erster Halt in der Demilitarisierten Zone (DMZ) ist einer von mehreren Tunneln, den die Nordkoreaner irgendwann einmal in Richtung Süden gebuddelt haben, dabei aber nach ein paar Hundert Metern gescheitert sind. Nach einem für viele (vor allem amerikanische) Touristen schweißtreibenden Marsch lenkt man Sie in den ersten von sehr vielen Souvenirshops des Tages. Da verkloppen sie Klamotten in Tarnfarben, Postkarten aus dem (Fast-)Norden, Soldaten als Actionpuppen. 

Völkerteilung als Touristenattraktion. Die DMZ als Trademark. Es fühlt sich wirklich falsch an. 

© Yannik Schüller

Nach weiteren, ähnlich sinnlosen Zwischenstopps können Sie dann durch Plexiglas und vorbei an „No Photo“-Hinweisschildern aus mehreren Kilometern Entfernung eine halbe Stunde gen Norden spähen. Am Horizont, jenseits des eigens für die Gaffer aus dem Süden gebauten Propagandadorfes, sehen Sie die Ausläufer von Kaesŏng, einer der größten Städte des Kim-Reichs. Sieht gar nicht so anders aus. Aber, wie gesagt: Muss man gesehen haben.

Ich wünsche Ihnen einen großartigen Tag – annyeonghi gyeseyo!

Ihr

Yannik Schüller

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