
Legende Eddy Merckx ist von dem slowenischen Alleskönner begeistert. So dominant war schon lange kein Radprofi mehr. Ist Pogacar bei der Tour erneut konkurrenzlos? Und was kann Lipowitz ausrichten?
Tadej Pogacar gönnte sich noch eine entspannte Kaffeefahrt mit seiner Verlobten Urska Zigart an der Côte d’Azur, dann trat der Radstar in bester Laune die Reise in den rauen Norden Frankreichs an. Nach einer „nahezu perfekten Vorbereitung“ kann der slowenische Ausnahmekönner den Grand Départ der 112. Tour de France in Lille kaum erwarten. „Es wird ein harter Kampf bis nach Paris, aber ich bin bereit“, sagte Pogacar, der mit dem vierten Triumph seine beeindruckende Jagd nach den Rekorden von Eddy Merckx und Co. fortsetzen will.
Nach einem Jahr der Superlative stellt sich mehr denn je die Frage, wer den Weltmeister überhaupt stoppen kann. Jonas Vingegaard, der Tour-Champion von 2022 und 2023, war dazu bei der Dauphiné-Rundfahrt zuletzt nicht in der Lage. Vielmehr spürte der Däne gar den Atem des Senkrechtstarters Florian Lipowitz, der den deutschen Fans Hoffnung auf einen tollen Radsport-Sommer macht – auch wenn in seinem Red-Bull-Team erstmal der slowenische Altstar Primoz Roglic die Kapitänsrolle innehat.
2024 erdrückte Pogacar bei der Tour die Konkurrenz mit sechs Etappensiegen und mehr als sechs Minuten Vorsprung in der Gesamtwertung auf Vingegaard. „Ich muss besser sein als vor zwei Jahren“, sagt der Herausforderer, der sich in diesem Jahr ganz auf die Tour konzentriert hat.
Merckx adelt Pogacar
Dagegen hat Pogacar im Frühjahr nahezu keinen Klassiker ausgelassen und beeindruckende Siege bei der Flandern-Rundfahrt und Lüttich-Bastogne-Lüttich gefeiert. Elfmal hat er in dieser Saison schon wieder gejubelt, der nächste Sieg ist gleichzeitig sein 100. Karriereerfolg. „Er ähnelt mir am meisten, aber man sollte die Generationen nicht vergleichen“, sagte Merckx über den neuen Kannibalen im Peloton.
Mit dem vierten Gesamtsieg könnte Pogacar mit dem Briten Chris Froome gleichziehen – und das gerade einmal mit 26 Jahren. Das ist noch keinem vor ihm gelungen. Dann würde ihm nur noch ein Erfolg bis zum elitären Kreis der Fünffachsieger Merckx (Belgien), Jacques Anquetil, Bernard Hinault (beide Frankreich) und Miguel Indurain (Spanien) fehlen.
Es werde schwer, ihn zu schlagen, sagt Red-Bull-Teamchef Ralph Denk, der im Gegensatz zu einigen Kollegen die Übermacht des Slowenen nicht als geschäftsschädigend für den Radsport ansieht: „Ich würde mal sagen, das ist schon ein richtig großer Sportsmann, was unserem Sport richtig, richtig guttut.“
Fünf Bergankünfte und Olympia-Feeling am Schlusstag
Bis zum nächsten Tour-Triumph hat Pogacar aber noch einige Herausforderungen zu bewältigen. Fünf Bergankünfte stehen in diesem Jahr auf dem Programm, darunter der berüchtigte Mont Ventoux, wo einst der Brite Tom Simpson auch wegen der Einnahme von Aufputschmitteln starb. Der Col de la Loze steht ebenfalls im Programm.
Dort erlebte Pogacar 2023 einen historischen Einbruch. Das sei „einer der schlimmsten Momente“ seiner Karriere gewesen. Sogar auf der Schlussetappe ist noch was möglich, wenn es dreimal über den Montmartre-Anstieg geht, was bei Olympia ein großes Highlight war.
Pogacar setzt dabei auch auf die Helferdienste von Nils Politt, der von seinem Kapitän beeindruckt ist. „Er ist ein gelassener lockerer Fahrer, der selbstbewusst ist, aber auch extrem hart für sich arbeitet“, sagte der Kölner. Politt war es auch, dem 2021 letztmals ein deutscher Tour-Etappensieg gelungen ist.
Von den zehn deutschen Startern richten sich dieses Mal in erster Linie die Augen aber auf Tour-Debütant Lipowitz, der innerhalb von einem Jahr in die Weltspitze vorgedrungen ist. Siebter bei der Vuelta, Zweiter bei Paris-Nizza, Dritter bei der Dauphiné – und nun? Teamchef Denk will keinen allzu großen Druck aufbauen. „Wir sehen so viel Gutes in dem Jungen, dass wir da wirklich ganz behutsam vorangehen wollen. Bei der Tour hat er das Ziel, Paris zu erreichen“, sagte Denk.
Führen Gelbe Karten zu weniger Stürzen?
Bis zum Zielstrich auf den Champs Élysées sind es 3338,8 Kilometer. In der ersten Woche warten viele Flachetappen, sodass vielen Fahrern die Chance auf Gelb winkt. „Das wird extrem chaotisch. Ich hoffe, dass wir die erste Woche mit so wenig Stürzen wie möglich absolvieren“, sagt Politt. Mit der Einführung von Gelben Karten für rüde Fahrmanöver will der Weltverband UCI dem entgegenwirken. Auch die Ausweitung der sogenannten Drei-Kilometer-Regel auf vier oder fünf Kilometer soll helfen. Dann können sich die Topstars früher aus der Sprint-Hektik zurückziehen.
Schon auf der ersten Etappe in Lille ist mit einem Massensprint zu rechnen, wie bei der letzten Ankunft 2014, als Marcel Kittel triumphierte. Bei Pogacars letzter Dienstreise in den Norden Frankreichs musste er sich übrigens im Frühjahr beim Kopfsteinpflaster-Klassiker Paris-Roubaix nach einem denkwürdigen Rennen mit Platz zwei hinter dem niederländischen Ex-Weltmeister Mathieu van der Poel begnügen. Ein seltenes Gefühl für den Alleskönner.