„Daddy Issues“: „Seit der Trennung muss ich jede Minute der perfekte Papa sein“

  • Juli 4, 2025

Wechselmodell nach der Trennung: Sebastian Tigges über den Druck, als Vater perfekt sein zu müssen – und warum jede Minute mit den Kindern ungleich kostbarer wird.

Seit der Trennung denke ich: Ich muss jede Minute der beste Papa sein, der ich sein kann. Und ich scheitere jede Minute. Jedenfalls fühlt es sich so an. Mein Anspruch an mich als Vater ist exorbitant gestiegen seit der Trennung. Ich habe das Gefühl, ich renne diesem Anspruch hinterher, jeden Tag, jede Sekunde. Das gewohnte Familienmodell ist gescheitert, von nun an gibt es für die Kinder zwei Welten und eine davon verantworte ich allein.

Seit der Trennung leben wir das Wechselmodell – 50:50. Auch vor der Trennung haben wir uns aufgeteilt, die Nachmittage nach der Kita abgewechselt mit der Betreuung der Kinder. Was sich zuvor nach einer Entlastung anfühlte, wird jetzt zur Zerreißprobe. Die Hälfte der Lebenszeit der Kinder fehlt mir von jetzt an. Ich erlebe meine Kinder die nächsten Jahre, diese so unermesslich wertvollen Jahre ihrer Kindheit, nur noch die Hälfte der Zeit. Eine Erkenntnis so erschütternd, dass ich sie kaum gedanklich zulassen, an mich ran lassen kann.

Ein wenig fühlt es sich so an, als hätte mir jemand gesagt, ich hätte nur noch die Hälfte der von mir angenommenen Zeit zu leben. Ich will ein ganzes Leben in der Hälfte der Zeit leben. Die Zeit, die ich mit den Kindern zur Verfügung habe, muss optimiert werden. Jeden Abend, die ich sie ins Bett bringe, will ich festhalten. Ich weine hin und wieder, wenn sie neben mir liegen und eingeschlafen sind. Ich trauere dann um die verlorene Zeit mit ihnen. Es existieren Statistiken darüber, wann man die meiste Zeit mit seinen Kindern verbringt. Nach den ersten zwölf Jahren sind 75 % der Zeit mit unseren Kindern um. So weit, so schlimm. Von diesen zwölf Jahren sind bei mir schon fünf, beziehungsweise dreieinhalb Jahre vergangen. Und seit der Trennung hat sich alles halbiert. Ich erspare mir selbst die Mathematik, das Ergebnis will ich nicht wissen.

Die Zeit wird kostbarer – und der Druck größer

Den Alltag mit meinen Kindern macht das auf eine Art wertvoller. Ich versuche, sie mehr wertzuschätzen. Momente, die vorher eher an mir vorbeigezogen sind, versuche ich bewusster zu erleben. Der Spielplatzbesuch nach der Kita, zuvor auch als lästig empfunden, hat nun eine andere Gewichtung. Der zynische Witz ist, dass ich vor der Trennung faktisch auch nicht mehr Zeit mit meinen Kindern hatte. Doch hat sich die Wahrnehmung der Zeit geändert – sie ist kostbarer geworden. 

Einerseits ist das vielleicht ein Geschenk. Der Vergleich hinkt, ich bitte um Verzeihung, aber jemand, der erfährt, dass er nur noch ein paar Jahre zu leben hat, entwickelt vielleicht eine andere Wertschätzung für seine Lebenszeit. Und analog dazu wurde mir ein schärferes Bewusstsein für die Kostbarkeit der Zeit mit meinen Kindern geschenkt. Und hin und wieder gelingt mir das – dann bin ich dankbar für Kleinigkeiten. Wenn meine Tochter gefühlt ewig braucht für die Strecke vom Spielplatz nach Hause, weil sie an jeder Ecke eine schöne „Blume“ entdeckt, die sie pflücken möchte. Dann erinnere ich mich daran, dass es genau diese Momente sind, die für sie ihre Kindheit ausmachen. 

In meiner Welt ist es eine Verzögerung im Ablauf, ein Holzpflock im Zahnrad des durchgetakteten Alltags. Für sie sind diese Blumen in dem Moment dagegen alles. Statt dann wie gewohnt halb entnervt daran zu erinnern, dass bald Zeit für das Abendessen sei und ihr damit diese Momente zu zerstören, gelingt es mir nun hin und wieder, den Moment mit ihr gemeinsam und bewusst zu erleben.

Gleichzeitig jedoch erhöht die neue Kostbarkeit der Momente mit meinen Kindern auch den inneren Druck. Das Spannungsverhältnis zwischen Beruf und Zeit mit den Kindern bleibt. Das führt dazu, dass ich noch strenger mit mir selbst bin. Konflikte mit meinen Kindern verzeihe ich mir inzwischen noch weniger selbst als zuvor. Die hektischen Momente am Morgen, wenn alles schnell gehen muss, weil die Kinder rechtzeitig in der Kita sein müssen, oder weil ich einen Termin habe, zu dem ich nicht schon wieder zu spät kommen will: Es vergeht kaum ein Morgen, an dem ich nach Abgabe der Kinder in der Kita nicht innerlich auf mich einschlage, weil ich wieder zu ungeduldig war, weil wieder nicht alles so harmonisch abgelaufen ist, wie ich es mir wünsche. 

Und wenn der Tag gekommen ist, an dem die Kinder nach der Kita zu Marie gehen, der Wechseltag, rechne ich innerlich mit mir ab. Ich ziehe eine Bilanz des Versagens. Erneut die wenige Zeit, die mir mit ihnen bleibt, nicht optimal genutzt, wieder hier zu laut geworden, da zu wenig präsent und dort zu viel Zeit am Handy verbracht.

Sebastian Tigges: Zwischen Freiheit und Leere

Was ich nicht verschweigen will: Die Zeit, die mir weniger bleibt mit meinen Kindern, habe ich plötzlich zur freien Verfügung. Auch das gehört zur neuen Realität. Und ich kann das auch genießen – stellenweise. Doch noch fühlt es sich überwiegend vor allem leer an, verloren. Wer bin ich denn in dieser Zeit, in dieser anderen, neuen Welt? Ich habe mich die letzten Jahre stark über meine Vaterrolle definiert. Und plötzlich gilt es, eine neue Identität zu erschaffen. Anfangs war ich versucht, meine „alte“ Identität wieder herauszukramen, mein Ich vor der Vaterschaft. Doch das passt nicht mehr. Ich bin nicht mehr der, der ich vorher war. Der Sprung von totaler Verantwortung zu radikaler Selbstbestimmung fühlt sich nicht wie Freiheit an, sondern wie ein Riss. Ich suche noch nach einer Brücke zwischen diesen beiden Zuständen. Nach einem Ich, das beides halten kann, ohne sich selbst zu verlieren.

Ich bin gestern, am Wechseltag, nach einem Arbeitstag nach Hause in meine Wohnung gekommen. Überall lag das Spielzeug der Kinder herum. Und da kommt sie mit voller Wucht, die Traurigkeit. Ich vermisse sie schlagartig so sehr, will sie wieder um mich haben, das Chaos mit ihrer Lautstärke, ihrem Lachen und ihrem Leben füllen. Dann räume ich auf, verwische alle Spuren, setze mich auf mein Sofa und freue mich auf einen freien Abend – überlege, ob ich hinausgehen soll, Freunde treffen, nicht auf die Uhr schauen, für einen Moment wieder frei sein. Und der Gedanke erfüllt mich in gleichem Maße mit Freude wie mit tiefer Traurigkeit.

  • Ähnliche Beiträge

    • Juli 4, 2025
    ChatGPT-Macher arbeiten an tragbarem KI-Gerät: Was dazu bisher bekannt ist

    Die ChatGPT-Macher von OpenAI arbeiten an einem tragbaren KI-Gerät. Frühestens in einem Jahr soll es zum Kauf angeboten werden.

    • Juli 4, 2025
    Frauen-Fußball-EM: Rückschlag für DFB-Elf: Giulia Gwinn muss verletzt ausgewechselt werden

    Unter Tränen raus: Giulia Gwinn hat sich im Auftaktspiel des DFB-Teams gegen Polen am Knie verletzt und ist schon in der ersten Halbzeit ausgewechselt worden – ein schwerer Rückschlag.

    Du hast verpasst

    ChatGPT-Macher arbeiten an tragbarem KI-Gerät: Was dazu bisher bekannt ist

    • Juli 4, 2025
    ChatGPT-Macher arbeiten an tragbarem KI-Gerät: Was dazu bisher bekannt ist

    Rhein-Neckar-Kreis: 79-Jährige überschlägt sich mit Auto – schwer verletzt

    • Juli 4, 2025
    Rhein-Neckar-Kreis: 79-Jährige überschlägt sich mit Auto – schwer verletzt

    Abbruch geglückt: Inselbergschanze fällt beim zweiten Versuch

    • Juli 4, 2025
    Abbruch geglückt: Inselbergschanze fällt beim zweiten Versuch

    Frauen-Fußball-EM: Rückschlag für DFB-Elf: Giulia Gwinn muss verletzt ausgewechselt werden

    • Juli 4, 2025
    Frauen-Fußball-EM: Rückschlag für DFB-Elf: Giulia Gwinn muss verletzt ausgewechselt werden

    Verkehr: Unfall mit sieben Fahrzeugen in Neuwied – sieben Verletzte

    • Juli 4, 2025
    Verkehr: Unfall mit sieben Fahrzeugen in Neuwied – sieben Verletzte

    Waldbrände in syrischer Küstenregion Latakia – Minen erschweren Löscharbeiten

    • Juli 4, 2025
    Waldbrände in syrischer Küstenregion Latakia – Minen erschweren Löscharbeiten