
Shoppen ohne Störgeräusche und grelles Licht – dafür steht die „Stille Stunde“, die manche Geschäfte in Hessen einführen. Entstanden ist die Idee auf der anderen Seite der Erde. Was sagen die Kunden?
„Pssst“, macht auf einem Plakat im Wiesbadener Kaufhaus Galeria eine Frau mit dem Zeigefinger auf dem Mund. „Stille Stunde. Weniger Reiz. Mehr Inklusion – entspannteres Einkaufen“ ist daneben zu lesen. Keine Musik, keine Werbedurchsagen, kein grelles Licht und keine zweiten zusätzlichen Rolltreppen bei Galeria in Betrieb: Auch Wiesbaden hat die Initiative „Stille Stunde“ einführt, immer donnerstags von 15 bis 17 Uhr, um Menschen mit besonderen sensorischen Empfindlichkeiten den Alltag zu erleichtern.
Laut der Stadtverwaltung hat die „Stille Stunde“ auf der anderen Seite der Erde, in Neuseeland, als Projekt eines Vaters eines autistischen Kindes begonnen. Inzwischen werde sie als „Silent Shopping“ oder „Quiet Hour“ in vielen Ländern umgesetzt. In Wiesbaden beteiligten sich neuerdings mehr als 20 Geschäfte daran.
Auch Ruheräume
Wie sind die Eindrücke vor Ort? Wie sieht es hessenweit mit dieser Initiative zum Schutz etwa von Menschen mit Autismus, ADHS, Angststörungen, Migräne oder Long-Covid vor Reizüberflutung aus? Auch in manchen anderen Städten ist die „Stille Stunde“ bereits teils eingeführt worden.
Janine Marz, Centermanagerin im Wiesbadener Einkaufszentrum Luisenforum, sagt: „Ob die „Stille Stunde“ wirtschaftlich für uns als Shopping-Center ist, wird man sehen, aber es geht darum, bei diesem Thema den ersten Schritt zu machen, das finde ich toll.“ Das Luisenforum habe auch einen Ruheraum geschaffen: „Eine Autistin hat mir gesagt, es sei schön, dass sie sich bei einer Panikattacke dorthin zurückziehen könne, das sei schöner als wie sonst in so einem Fall zur Toilette zu gehen“, berichtet Marz.
Kunde: „Das könnte man den ganzen Tag so machen“
Im Kaufhaus Galeria shoppen Sara Sedaghat und Robert Wilhelmy. Sie sagt: „Ach ja, stimmt, die Musik fehlt. Ich finde diese Idee toll, es soll allen gut gehen.“ Er meint: „Das könnte man den ganzen Tag so machen.“ Die kaufmännische Leiterin des Kaufhauses, Kim-Alexa Tran, sagt: „Wir haben auch positive Reaktionen von unseren Mitarbeitern. Irgendwann merkt man sonst die Lautstärke gar nicht mehr, aber jetzt merken wir, dass wir selbst ruhiger werden.“
Der Handelsverband Hessen unterstützt die Einführung der „Stillen Stunde“. Eine Sprecherin sagt: „Der Handel versteht sich als Ort der Teilhabe und Begegnung für alle Menschen; Inklusion ist deshalb für Händlerinnen und Händler ein selbstverständlicher Aspekt des Alltagsgeschäfts.“ Dafür erhielten „Händlerinnen und Händler insbesondere auf Social Media zunehmend positives Feedback – sowohl von den Kundinnen und Kunden als auch von den Mitarbeitenden“, ergänzte die Verbandssprecherin.
„Langsame Kassen“ in Heusenstamm
In einem Rewe-Markt in Heusenstamm kaufen Kunden mittwochs von 15 bis 17 Uhr unter einem geringeren Reizeinfluss ein. Kombiniert wird diese Idee mit „langsamen Kassen“. Waren sollen ohne Zeitdruck eingeräumt werden können. Nach Angaben des Marktleiters Sedat Tekin werden in der Zeit auch keine Container durch den Markt gerollt.
„Ich fand die Idee hervorragend“, sagt er. In seinem Geschäft gebe es schon seit rund einem Jahr eine „Stille Stunde“. Der Markt sei damit einer der Ersten deutschlandweit gewesen. „Am Anfang war das ein großer Hype. Die Reaktionen waren toll, mittlerweile hat es sich normalisiert.“ Der Behindertenbeirat des Kreises Offenbach sei auf ihn zugekommen und habe auch Schulungen übernommen. In dem Landkreis wirbt der Arbeiterkreis „Stille Stunde OF“ in weiteren Supermärkten für das Projekt.
„Stille Stunde“ auch in Darmstadt
Auch in Darmstadt wird nach Angaben der Stadtverwaltung seit rund einem Jahr in einem Supermarkt im Stadtteil Kranichstein das Konzept jeden Dienstag zwischen 16 und 18 Uhr umsetzt. Laut dem Inhaber komme es bei der Kundschaft gut an.
Weiter im Norden, in Kassel, steht man der Idee ebenfalls offen gegenüber. „Das Citymanagement der Stadt Kassel und die städtische Behindertenbeauftragte arbeiten daran, die im Innenstadtbereich angesiedelten Geschäftsleute für das Konzept der „Stillen Stunde“ zu sensibilisieren und dafür zu werben“, sagte ein Sprecher der Stadt. Auch die Einzelhandelsketten seien kontaktiert worden, um sie für das Konzept zu gewinnen.
„Stille Stunde“ auch in der Stadtverwaltung?
Kürzlich habe es zudem eine Informationsveranstaltung gegeben mit dem Ziel, die „Stille Stunde“ bürgernah in der Stadtverwaltung einzusetzen. Ein Ergebnis dieses Austauschs sei gewesen, dass Aktionstage in bestimmten Bereichen mit Publikumsverkehr etwa für Beratungen und Antragstellungen in reizarm ausgestatteten Büros bei gedämpftem Licht ohne Zeitdruck durchgeführt werden könnten.
Zudem sei die Idee aufgekommen, Schulungen in Hinblick auf Neurodiversität im städtischen Fortbildungsprogramm aufzunehmen, um mehr Verständnis bei der Verwaltung für bestimmte Verhaltensweisen zu erreichen. „Öffentliche Rückzugsorte für neurodiverse Menschen sind in den städtischen Museen bereits vorhanden, werden bisher jedoch offensiv nicht beworben“, erläuterte der Sprecher.
Nicht alle Städte haben schon „Stille Stunden“
In Fulda dagegen sagte ein Stadtsprecher, derzeit sei hier keine „Stille Stunde“ geplant: „Die Beschallung in Fuldaer Geschäften wurde bisher auch nicht als Problem wahrgenommen.“ Er ergänzte: „Lautsprecherdurchsagen wie früher in Kaufhäusern sind ohnehin weitgehend verschwunden.“
Auch in Hanau gibt es keine „Stille Stunde“ – aber Überlegungen, sie in dem Freizeit- und Einkaufszentrum Stadthof einzuführen, teilte ein Sprecher der Kommune mit. Gießen und Marburg berichteten ebenfalls, noch nichts von „Stillen Stunden“ in Geschäften zu wissen. Und Hessens größte Stadt? Auch in Frankfurt gibt es laut der Stadtverwaltung bislang kein solches Projekt.