
Frauen und ihre Muskeln: Unsere Autorin wechselte vom Laufen zum Krafttraining. Nicht nur ihr Körper wurde stärker – auch mental veränderte das Training sehr viel.
Es begann mit Rückenschmerzen, ganz unten, in den Lendenwirbeln. Wie bei so vielen. Weil auch ich zu viel sitze. Als Läuferin glaubte ich lange, ich sei vor solchen Zipperlein geschützt. Ich dachte mir, Krafttraining brauche ich nicht. Hielt es für öde und unnötig. Das Ausdauertraining sollte doch ausreichen, um mich gesund zu halten. Aber der Körper ist dann doch eine komplexe Sache. Und zur Wahrheit gehört auch, dass bereits ab dem Alter von 30 Jahren der natürliche Abbau der Muskeln beginnt. Pro Lebensjahr schwindet dann die Muskelmasse um etwa ein Prozent.
Laut einer neuen Studie der Stanford University vollzieht sich die Muskelalterung in zwei großen Schritten. Mit etwa 44 Jahren kommt es zur ersten Beschleunigung. Viele leiden dann, so wie ich, zum ersten Mal in ihrem Leben an Rückenschmerzen und Verspannungen. Im Alter von 60 Jahren folgt der zweite Schritt – noch einmal einhergehend mit einem vermehrten Kraftverlust. Die Wissenschaft weiß heute: Kein altersbedingter Schwund im Körper ist gravierender. Lange wurde das in der Medizin nicht als Problem verstanden.
Unsere Muskeln verlieren an Masse, wenn wir altern
Es findet ein Umbau und Abbau gleichermaßen statt. Muskelfasern werden durch Fett ersetzt. Der Verlust von Motoneuronen, einer speziellen Form von Nervenzellen, sowie die Degeneration von Verbindungsstellen zwischen Nerven- und Muskelzellen verschlechtert die Signalübertragung und beschleunigt so den Muskelaufbau. Soweit die Bestandsaufnahme.
Was also tun? Wäre ich ein Mann, hätte ich vermutlich sofort gesagt: Ich muss Krafttraining machen. Nun bin ich aber eine Frau. Wir wurden – und werden auch heute noch – oft davor gewarnt, mit schweren Gewichten zu trainieren. Das sei nicht weiblich genug, vielleicht gar gefährlich für das sogenannte „schwache Geschlecht“, und all die Muskeln sähen ja auch nicht feminin genug aus. Da kann man mit den Schultern zucken und sagen: so ein Unsinn. Aber die Wahrheit ist auch: Frauen machen heutzutage immer noch weniger Krafttraining als Männer. Oft mit der Begründung, man wolle nicht zu breit werden.
Aber gerade scheint etwas in Bewegung zu kommen. Laut einer neuen Statistik ist die Zahl der Frauen, die regelmäßig mit Gewichten trainieren, seit 2020 von 17, 5 Prozent auf 20 Prozent gestiegen. Immerhin. Der Zuwachs ist wohl angetrieben von einer Reihe neuer Studien, die den positiven Effekt von Krafttraining besonders für den weiblichen Körper untersucht haben. Die Erkenntnis scheint sich durchzusetzen: Muskeln machen uns nicht breit, sondern stark.
Wie gut das ist, habe auch ich gelernt. Und ab hier geht es im Text jetzt um Muskelkater. Viel Muskelkater. Als Läuferin hatte ich natürlich die Muskulatur in meinem Oberkörper komplett vernachlässigt. Und wenn die nicht gefordert ist, schwindet sie – wie sonst kein Organ des menschlichen Körpers. Als ich an einem feuchtkalten Herbsttag mit Wollleibchen um die Lenden und Wärmflasche von Rückenschmerzen gebeugt zum Sofa schlurfte, verstand auch ich: Ich brauche Muskeln. Am besten überall, aber vor allem am Oberkörper.
Mit CrossFit begann der tägliche Muskelkater
Fitnessstudio fand ich schon immer langweilig, also musste eine Alternative her. Durch meine Arbeit als Wissenschaftsjournalistin hatte ich in letzter Zeit immer wieder von CrossFit gehört und gelesen. Das ist eine derzeit sehr populäre Sportart, die Ausdauer- und Krafttraining schnell und intensiv miteinander kombiniert. Entstanden ist sie in den 90er-Jahren in den USA, damals noch als Training für Feuerwehrleute, Soldatinnen und Polizisten, und wurde mit dem Markennamen CrossFit versehen – mittlerweile gibt es schätzungsweise weltweit fünf Millionen Menschen, die Cross-Training betreiben.
Mich lockte das Versprechen eines effektiven Ganzkörpertrainings mittels Squats (Kniebeugen), Pull- und Push-ups (Klimmzügen und Liegestütz), Rowing (Rudern) oder Wallball-Shots (Medizinball auf ein Ziel in drei Meter Höhe werfen). All das komprimiert auf Übungseinheiten von einer Stunde, immer angeleitet von Trainerinnen oder Trainern. Gleichzeitig ignorierte ich Überschriften in Fitnesszeitschriften wie „Der härteste Sport der Welt“. Die Fotos von Männern und Frauen bei dieser Art des modernen Zirkeltrainings mit eindrucksvollen Sixpacks und Oberarmmuskeln verstand ich als Versprechen für die sportliche Zukunft, die vor mir lag.
Das erste Training war ein absoluter Schock. Sit-Ups mit 10 Kilo Gewicht, Pull-Ups, Squats und Wallball-Shots wechselten sich 20 Minuten lang ab, immer 10, 15, 20 Wiederholungen. Und dann wieder von vorn. Pausen gab es keine, gerudert wurde dazwischen auch noch. Als wir damit fertig waren, gab es neue Übungen für die nächsten 20 Minuten. Mein Gehirn schaltete irgendwann auf Autopilot um. Ich funktionierte einfach nur – und hielt durch. Am Tag danach war er da, der Muskelkater. Und wirklich überall: in den Oberarmen, Waden, im unteren Rücken, den Schultern – sogar in den Fußsohlen. Keine Ahnung, wie er da hingekommen ist. Hier könnte die Geschichte mit dem Satz enden: Ich bin nie wieder hingegangen.
Aus dem ersten Schock wurde wahre Liebe
Aber sie geht weiter. Inzwischen trainiere ich meine Muskeln etwa viermal die Woche. Und habe fast jeden Tag Muskelkater, jetzt, da ich den Text schreibe, gerade wieder im Bauch. Das geht jetzt schon seit Jahren so. Laufen gehe ich nur noch selten. Ich habe viel darüber nachgedacht, warum aus dem ersten Schock wahre Liebe wurde. Warum ich trotz der Trainingsstrapazen und der tagelangen Schmerzen immer wieder hingehe?
Weil ich verstanden habe, dass ich trotz jahrelanger Lauferei eigentlich überhaupt nicht fit war. Ausdauer allein reicht einfach nicht. Meine Muskulatur war eine Katastrophe. Starke und schnelle Beine sind gut, aber sie allein reichen bei Weitem nicht aus. Darüber erschrak ich sehr. Außerdem merkte ich schon in der Umkleide, wie positiv meine Laune war. Ich hatte mich zum ersten Mal seit vielen Jahren beim Sport komplett ausgetobt. Spürte eine wohlige Müdigkeit in Armen und Beinen.
Muskeln lassen uns lächeln, laufen und zupacken. Sie lassen unser Herz schlagen – und machen es möglich, dass uns bei Gänsehaut die Haare zu Berge stehen. Sie sind unser Motor – und noch viel mehr. Frauen profitieren besonders stark, wenn sie gut trainiert sind, so sagt die Forschung inzwischen. Was für ein Wandel! Und was für ein wichtiger. Von Natur aus haben Frauen weniger Muskelmasse als Männer. Dafür ist unser Fettanteil größer. Aber selbst wenn nicht gefordert und in Ruhe, verbrennen Muskeln mehr Energie, als Fett es tut. Muskeln bilden ein Organsystem, das Botschaften sendet und so den Körper zwingt, sich zu stärken, zu erneuern und zu kurieren. Wenn wir in Bewegung bleiben, hält uns das auch am Leben, so einfach die Gleichung. Bei Frauen kann Krafttraining auch lindernd auf Menstruations- und Wechseljahr-Beschwerden wirken.
Aber die biochemischen Botenstoffe aus der Muskulatur wirken nicht nur auf die Physis, sondern auch auf Gehirn und Psyche. Aerobes Ausdauertraining kurbelt bei Erwachsenen die sogenannte Neurogenese an, die Neubildung von Nervenzellen im Gehirn. Das beugt Alzheimer, Demenz, Parkinson und zahlreichen anderen neurologischen Krankheiten vor. Inzwischen ist sehr gut belegt, dass sich Depressionen durch regelmäßige körperliche Aktivität zum Teil fast genauso gut behandeln lassen wie mit Psychopharmaka oder Gesprächstherapie. Auch auf Ängste hat Bewegung wohl eine ähnlich positive Wirkung.
Mich lassen meine neu gewachsenen Muskeln aufrechter durch das Leben gehen. Das meine ich auf mehreren Ebenen. Natürlich ist meine Haltung viel besser geworden, die Rückenschmerzen sind weg. Aber vor allem in meinem Kopf ist viel passiert. Ich mag meinen trainierten Körper, aber das Aussehen ist eigentlich gar nicht so wichtig. Ich bin stolz darauf, auf die Arbeit und das Durchhaltevermögen, die ich investiert habe. Besonders wichtig war es für mich, im Training zu erleben, dass viele Grenzen nur in meinem Kopf bestehen. Und ich sie oft überwinden konnte. Deswegen ist mit meinen Muskeln auch mein Selbstbewusstsein deutlich gewachsen. Ich stehe einfach stärker im Leben.