
Erstmals gastierte der SailGP in Deutschland – und traf auf einen Ort voller Ruinen. Doch bewies man gerade in Sassnitz eindrucksvoll, wie man Segelsport spannend inszeniert.
Die Ortsdurchfahrt von Sassnitz auf Rügen ist ein Trauerspiel. Alle paar Meter stehen Ruinen, für die sich die Stadt mit großen Schildern entschuldigend rechtfertigt.
„Dieses Haus gehört nicht der Stadt Sassnitz“, steht daran. „Für den Zustand ist allein der Eigentümer verantwortlich.“ Die kleine Hafenstadt, so scheint es, trägt schwer an ihrer Vergangenheit. Oder steckt noch mittendrin. Wer weiß das schon.
Dabei ist das tragisch, denn Sassnitz hat alles, was eine Stadt sich nur wünschen kann: Substanz, Lage, Aussicht. Überall blitzt die Ostsee, der Wind frisch, die Luft salzig, kräftigend. Ein Ort, der eigentlich glitzern müsste.
San Francisco, New York … und Sassnitz
Und das tut er in diesen Tagen, denn Sassnitz ist Schauplatz eines Ereignisses von Weltformat. Zum ersten Mal wird hier einer der spektakulärsten Segelwettkämpfe ausgetragen – mit Wiederholungsgarantie. Für eine Stadt mit knapp 10.000 Seelen so etwas wie ein Wunder.
Die Rede ist vom SailGP. Während es bei klassischen Regatten meist nur um das Anfeuern beim Start geht, und die Boote dann auf Nimmerwiedersehen den Hafen verlassen, bleiben die Segelboote des SailGP, F50 genannt, in Sichtweite. Der Sport wird greifbar. Fast zum Anfassen.
stern-Redakteur Christian Hensen auf dem Deck eines SailGP-Renners. Wenn das Boot nicht fährt, sitzt es sich sogar recht gemütlich
© privat
Die Nähe zum Hafen verdichtet die Action auf engstem Raum. Nirgends rasen Segelboote schneller. Das liegt auch an der Schlichtheit des Kurses: Die Katamarane müssen im Prinzip nur von einer Markierung zur nächsten. Dort eine Wende, dann zurück – und wieder von vorn. Um dabei „im Wind zu bleiben“, wie Segler sagen, braucht es präzise Manöver. Geradeaus wäre kürzer, doch die launische Natur zwingt die Crews zu ständigen Kurswechseln. All das geschieht in Sichtweite des Publikums.
Bei der Premiere in Sassnitz gelang es den Teilnehmern aus Dänemark sogar, den Geschwindigkeitsrekord zu brechen. Beim Umfahren der ersten Kursmarkierung flogen sie mit 103,93 Kilometern pro Stunde über das Wasser der Bucht. Man konnte förmlich spüren, wie Mensch und Material mit der sich entfaltenden Urgewalt und den wirkenden Kräften zu kämpfen hatten.
„Fliegen“, das ist ein Wort, das man beim SailGP oft hört. Denn erst, wenn die Foils – die Tragflächen unter den Rümpfen – ansetzen, heben sich die Katamarane aus dem Wasser. Ist das passiert, rasen die Boote davon. Das Geräusch ist einzigartig. Es hat etwas von parkendem Elektroauto und Science-Fiction-Maschine.
Im Gegensatz zu anderen Rennserien gehören die F50 allesamt dem Veranstalter. Das hat den Vorteil, dass jeder Katamaran exakt gleich ist. Ein Sieg hängt also nicht von Konstruktion oder Budget ab, sondern allein vom Können der Crew.
Wer SailGP fährt, hat nicht selten bereits Olympia-Medaillen in der Tasche
So spannend die Technik auch ist – die eigentlichen Stars sind die Menschen. Bis zu sechs Profis treiben einen F50 über die Wellen, fast alle Hochleistungssportler, vielfach mit Olympia-Gold. Unter ihnen: Martine Grael, Steuerfrau der Brasilianer. Wer ihr die Hand gibt, spürt es sofort: Diese kleine Frau hat Ozean-Hände. Die Haut rau, die Finger längst an hartes Tau und Salzwasser gewöhnt.
Martine ist hochdekoriert und in der Szene eine Legende. Und doch spricht sie beinahe zurückhaltend von ihren Erfolgen. Wichtiger sind ihr das Teamwork und die Frauenpower. Denn im SailGP gibt es eine Quote: Frauen müssen zwingend an Bord. Und dort zeigen sie immer wieder, dass es für die meisten Aufgaben völlig unerheblich ist, ob Mann oder Frau. Grael begrüßt die Quote: „Für Frauen ist der Weg im Leistungssport oft an einem gewissen Punkt unterbrochen. Um weiterzukommen, muss man sehr hart kämpfen. Eine Quote ebnet den Weg und gibt Frauen eine faire Chance, sich zu beweisen.“
In der Realität spiele das Geschlecht ohnehin kaum eine Rolle, fügt die Olympiasiegerin hinzu. „Ich muss mich jedes Mal an Bord daran erinnern, dass es in der Crew unterschiedliche Geschlechter gibt. Das vergisst man schnell.“ Gelebte Inklusion. Über den SailGP sagt sie begeistert: „Für mich gibt es kein besseres Segelrennen.“
Veranstalter und Besucher waren gleichermaßen vom ersten SailGP in Deutschland begeistert – die Stadt bietet die ideale Infrastruktur für ein Segelrennen in Küstennähe
© Felix Diemer for SailGP
Das Publikum sah das vermutlich sehr ähnlich. Mehr als 26.000 Menschen konnten sich bei der deutschen Premiere von der Rennserie in Sassnitz überzeugen. Die Tribünen auf der kilometerlangen Schutzmauer direkt am Wasser waren an beiden Renntagen bis auf den letzten Platz gefüllt, der Hafen von morgens bis abends bevölkert. Jede Vorbeifahrt der Segler wurde bejubelt, besonders der erste Sieg der deutschen Mannschaft an der heimischen Küste – frenetisch gefeiert. Auch das macht den SailGP besonders: Die Sportler erleben das Feedback der Fans hautnah. Versuchen Sie das mal mitten auf dem Ozean.
Der Termin für das kommende Jahr steht bereits fest. Der SailGP wird, das bestätigte die Ministerpräsidentin schon am ersten Renntag, wieder nach Sassnitz kommen. Deutschland hat damit offiziell eine neue Rennserie im Land – ganz ohne Motoren und Abgase.
Was bleibt? Vielleicht wirkt die internationale Aufmerksamkeit wie ein kleines Olympia. Vielleicht rüttelt sie jene wach, deren Bauruinen bislang so schamlos den Ort verunstalten. Einmal aufgeräumt – und Sassnitz wirkt nicht mehr verloren. Sondern plötzlich plausibel auf einer Landkarte, neben den anderen Station des SailGP, etwa San Francisco, New York, Genf.