
Seit 2011 ist Torsten Voß beim Hamburger Verfassungsschutz, seit 2014 als Leiter des Landesamtes. Die Arbeit des Inlandsgeheimdienstes hat sich seit seiner Gründung vor 75 Jahren deutlich gewandelt.
75 Jahre nach seiner Gründung steht der Verfassungsschutz in Hamburg vor neuen Herausforderungen. Seit seinen Anfängen hätten jahrzehntelang Rechts- und Linksextremismus sowie Spionageabwehr im Fokus gestanden, sagt der Leiter des Landesamtes, Torsten Voß, der Deutschen Presse-Agentur. Mittlerweile seien weitere sogenannte Phänomenbereiche hinzugekommen, allen voran der islamistische Extremismus seit den Anschlägen von 9/11 vor 24 Jahren.
In der Corona-Pandemie seien die sogenannten Delegitimierer – Extremisten, die den demokratischen Staat und seine Institutionen verächtlich machen und teils mit Gewalt schaden wollen – auf den Plan getreten. Und aktuell komme es zwischen den verschiedenen extremistischen Bereichen zu bedenklichen Überschneidungen.
Internationale Konflikte strahlen nach Deutschland aus
„Die internationalen Krisen wie der völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg gegen die Ukraine oder der Terror-Überfall der Hamas auf Israel haben dazu geführt, dass diese Konflikte auch stärker nach Deutschland und damit auch auf Hamburg ausstrahlen“, sagt der 60 Jahre alte Amtsleiter. „Und erstmals sehen wir eine sogenannte Querfront, also unterschiedliche Phänomenbereiche, die ein gemeinsames Ziel verfolgen.“
Von Linksextremisten, die mit Delegitimierern auf die Straße gingen, bis hin zu Auslandsextremisten – „alle haben nun einen gemeinsamen Feind. Und das ist Israel“, sagt Voß.
Der Verfassungsschutzchef spricht von drei Stufen der Entgrenzung: Zum einen habe der Nahostkonflikt die zwei Lager sunnitischen und schiitischen Islamismus enger zusammengebracht. „Und dann haben wir den Schulterschluss zwischen Islamisten und Linksextremisten und den Delegitimierern, die dann gemeinsam gegen Israel auf die Straße gehen.“
Antisemitismus als Bindeglied extremistischer Phänomenbereiche
In der dritten Stufe versuchten Islamisten, über das Thema Nahostkonflikt die übergroße demokratische Mehrheit der muslimischen Community in ihrem Sinne zu beeinflussen.
Gemeinsam sei allen eine antisemitische Grundhaltung. Vor allem Islamisten wie „Muslim Interaktiv“, aber auch die propalästinensische Gruppe „Thawra! Hamburg“, die beide unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stehen, nutzten dies, um unter jungen Muslimen neue Anhänger zu rekrutieren.
Dieses antisemitische Potenzial zeige sich auch bei den Straftaten. Bisher seien antisemitische Taten entweder dem Rechtsextremismus oder gar nicht zuzuordnen gewesen. „Nun haben sich die antisemitischen Straftaten nahezu verdoppelt und zum ersten Mal ist die Mehrheit der Taten dem Islamismus oder dem Extremismus mit Auslandsbezug zuzuordnen.“
Verfassungsschutz hat muslimischen Antisemitismus im Blick
Als Mitglied des „Runden Tischs Antisemitismus“ hätten ihn die Zahlen nicht überrascht. „Wenn man mit Vertretern der Jüdischen Gemeinde spricht, hört man, dass alle schon Erfahrungen mit islamistischem Antisemitismus gemacht haben“, sagt Voß.
Da sich das bis zum Terror-Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 aber nicht in der Zahl der Straftaten widergespiegelt habe, hätten das subjektive Sicherheitsgefühl und die objektive Sicherheitslage bis dato auseinandergelegen. „Das ändert sich seit dem Überfall und die gefühlte Unsicherheit manifestiert sich leider auch in den registrierten Straftaten.“
Er gehe davon aus, dass der Trend weiterhin anhalte – auch unabhängig davon, wie sich der Nahostkonflikt entwickele. „Aus meiner Sicht ist da etwas ins Hellfeld geraten, was eigentlich schon länger da war.“ Deshalb werde man den islamistischen Antisemitismus weiter im Blick behalten und ihm alles entgegensetzen. „Aber wir dürfen den rechtsextremistischen Antisemitismus deshalb nicht vernachlässigen und auch nicht verharmlosen“, mahnte er.
Größte Gefahr für den Rechtsstaat kommt von rechts
Insgesamt gehe von Rechtsextremisten nach wie vor die größte Gefahr für den Rechtsstaat aus, sagte Voß. Als Beispiel nennt er die Gruppe „Muslim Interaktiv“. „Ein wie auch immer geartetes Kalifat, das diese Gruppierung einfordert, wird es in Deutschland nie geben. Allerdings haben als gesichert rechtsextremistisch eingestufte Parteien wie die AfD in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und jetzt auch in Brandenburg ihren Weg in die Parlamente und damit in die politische Willensbildung gefunden.“
Insgesamt glaube er, dass die Arbeit für den Verfassungsschutz mehr werde. „Weil die Bedrohungen nicht abnehmen, sondern zunehmen – insbesondere jetzt im Bereich der Spionage“, sagt Voß. „Spätestens seit dem Angriff Russlands vom 24. Februar 2022 auf die Ukraine und die damit verbundene Steigerung der Spionage, der Desinformation, der hybriden Bedrohung und der Drohnen in der Luft fokussiert sich die Arbeit noch stärker auf diesen Bereich“.
Zudem müssten alle Sicherheitsbehörden mit der Informationsflut speziell in den sozialen Netzwerken umgehen – eine Herausforderung auch für den Verfassungsschutz. Der Hamburger Senat habe unter anderem mit der Bewilligung weiterer Stellen für die Spionageabwehr auf die neue Situation reagiert.
Bedrohungen für die Verfassung werden zunehmend digital
Überhaupt liegt die Zukunft des Verfassungsschutzes für Voß im Netz. „Insgesamt stellen wir fest, dass sich der Extremismus immer mehr in die virtuelle Welt verlagert.“ Auch die Künstliche Intelligenz stelle die Verfassungsschützer dabei vor große Herausforderungen.
Standen früher Schlapphüte im Trenchcoat sinnbildlich für den Verfassungsschutz, baut Voß für die Zukunft auf Digital Natives. „Die Zukunft wird so aussehen, dass wir immer mehr datenzentrierte Ansätze verfolgen werden – einfach aufgrund dieser Masse an Dateninformationen.“ Diese gelte es, aus dem Netz herauszufiltern. „Und wir brauchen immer mehr Menschen, die diese Kommunikationswege auch bedienen können.“