morgen|stern: Es wird höchste Zeit, verbal abzurüsten – die Lage am Morgen

  • Juni 19, 2025

Warum Worte mehr sagen können als 1000 Bilder. Opa Wladimir gibt seltene Familieneinblicke. Und was sonst heute noch wichtig wird. 

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

die moralisch überlegene Gebrauchsanweisung, einen Menschen „nicht an seinen Worten, sondern an seinen Taten zu messen“ dürfte Ihnen geläufig sein.

Ich möchte widersprechen. Schluss mit dieser „Der tut nichts, der bellt nur“-Plattitüde. Denn am Ende stehen am Anfang immer vermeintlich vernachlässigbaren Worte, die aus einem Mit- ein Gegeneinander machen. Vor allem in übersensiblen Zeiten wie diesen, da die Nerven ohnehin schon in Werkseinstellung blank liegen. 

Wahrscheinlich haben Sie damit selbst schon die Erfahrung gemacht, wie ein falsches Wort, zur falschen Zeit, im falschen Ton eine Lawine lostritt, die alles verändert, die Freundschaften und Beziehungen unter sich begräbt. Das Prinzip ändern sich nicht, je weiter man herauszoomt. Nur der Einsatz wird größer, die Folgen verheerender. Wenn der Präsident der USA den „totalen“ Sieg über ein anderes Land fordert, der Bundeskanzler Töten mit „Drecksarbeit“ abtut, Israels Regierungschef von seinem Volk spricht, „das sich wie ein Löwe erhebt“ und Irans Oberster Führer ebendiesem Volk mit „Auslöschung“ droht, dann sagt das im Zweifel eben weit mehr als 1000 Bilder.

Auch wenn wir im trumpschen Zeitalter vom einst Unsagbaren längst übersättigt sind, gehören die Worte der Entscheider sehr wohl auf die Goldwaage. Um eine tiefe Wunde zu reißen, braucht es eben bloß das: ein Wort. Um zu heilen, braucht es hingegen viele. Sehr viele. Und viel zu oft gar nicht genug.

Wenn „Drecksarbeit“ ein Nachspiel hat

Um die mindestens einmal diskutable Wortwahl des Bundeskanzlers geht es auch in der neuen Ausgabe des „5-Minuten-Talk“. Wer es mit Merz gut meint, könnte dessen „Drecksarbeit“-Zitat nun wegmoderieren: „Der sagt doch nur, was alle denken!“ Aber: Ist das wirklich so? Und selbst wenn: Wäre das so klug?

Opa Wladimir ist stolz

Machen wir ein Gedankenexperiment. 

Ich wollte gerade ehrlich schreiben: Schließen Sie die Augen. Kurze Kaffeepause. 

Also. Stellen Sie sich einen Großvater vor. Nicht unbedingt Ihren eigenen, eher eine Art ideales Sinnbild. Was sehen Sie? Einen weißbärtigen, angenehm runzligen Mann mit leichtem Bauchansatz und tiefen Lachfältchen? Der sich in der warmen Abendsonne auf den knarzenden Schaukelstuhl seiner Veranda fläzt? Dabei seinem halben Dutzend Enkelchen zum dutzendsten Mal eine Geschichte aus einem Land vor ihrer Zeit erzählt?

Schön für Sie. Ich sehe Wladimir Putin

Der Kremlchef hat nämlich gegenüber internationalen Reportern am Rande des Wirtschaftsforum in St. Petersburg erstmals von seiner Enkelin gesprochen. Die spreche inzwischen fließend chinesisch. Opa ist stolz. 

Gut, dass ein 72-Jähriger Kindeskinder hat, ist wohl nur der russischen Nachrichtenagentur Tass eine Eilmeldung wert (wirklich). Aber ich kann mir diesen eiskalten KGB-Veteranen noch eher am Verhandlungstisch denn im Schaukelstuhl vorstellen. 

Dass aus dessen drei Jahrzehnte währenden Ehe mit der Deutschlehrerin Ljudmila zwei Töchter hervorgingen, ist bekannt. Um die mutmaßlich zahlreichen illegitimen Nachkommen des Imperators ranken sich allerdings zahlreiche Legenden.

Was heute sonst noch ansteht

Außenminister Johann Wadephulund seine Kollegen aus Großbritannien und Frankreich wollen in Genf Irans Chefdiolomat Abbas Araghtschi treffen. Nach dem „Drecksarbeit“-Kommentar seines Chefs sollte sich Wadephul einen wirklich guten Eisbrecher zurechtlegenIn Frankreich startet der Gerichtsprozess zur „Weinlese der Schande“. Klingt, als wäre Alexander Gauland unter die Winzer gegangen, ist aber gar nicht zum Lachen. Dutzende Afrikaner sollen unter menschenunwürdigen Bedingungen und ohne Bezahlung als Erntehelfer missbraucht worden seinProto-Hippie Rainer Langhans, Sternzeichen Gänseblümchen, wird heute 85 Jahre alt. Wenige Menschen dürften mit sich und der Welt so sehr im Reinen sein wie der Mitbegründer der „Kommune 1“. Dass er an Krebs erkrankt ist, ändert für ihn offenbar nichts. Ihm gehe es damit „sehr gut“

Die fernöstliche Weisheit des Tages 

Wenn ich sage, dass ich mich über Feedback freue, meine ich damit natürlich: über Lob. 

Wie viele, vielleicht wie die meisten Journalisten, gebe ich mich nach außen hin nahezu aufopfernd offen für Kritik, schrumpfe aber in Wahrheit jedes Mal innerlich zusammen, wenn jemand an meinem Können zweifelt. Sympathisch, oder?

Es gibt allerdings ein Manko, dass ich mir definitiv nicht attestieren lassen und ich genauso wenig über mich selbst denken mag: dass ich geizig sei. Das zu vermeiden, entpuppt sich hier in Seoul allerdings als kulturelles Problem.

Geiz will gelernt sein

Denn: In Südkorea gibt man kein Trinkgeld. 

Nicht etwa, weil Pfennigfuchserei Teil der hiesigen Leitkultur sei. Zuviel Zahlen gilt als schlichtweg als unhöflich. 

In touristischen Gegenden nehmen die Koreaner allmählich Rücksicht auf uns unflexible Wessis und akzeptieren den Gästezehnt – aber eben nur, damit wir Kulturfremden uns besser fühlen. Eine Unsitte bleibt es trotzdem. Als Mitarbeiter eines bekannten Cafés in Seoul vor zwei Jahren eine Tip-Dose auf den Tresen stellten, traten sie damit eine wochenlange nationale Mediendebatte los.

Mal ehrlich: Wer Trinkgeld gibt, will doch in Wahrheit nicht die Leistung des Kellners, sondern vor allem seine eigene Großzügigkeit anerkannt wissen. Mich gegen diesen Reflex zu wehren, fällt mir enorm schwer. Ein Restaurant centgenau zu verlassen fühlt sich ein bisschen wie stehlen an. 

Dabei nehme ich mir eigentlich seit langem vor, schlechten Service mit schlechtem Trinkgeld zu quittieren. Das klappt natürlich selten: Die Angst vor dem bösen Blick ist in der Regel größer als die Empörung über die vergessene Bestellung.  

Ich wünsche Ihnen einen großartigen Tag – annyeonghi gyeseyo!

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