
Helden auf der Gerölllawine: In Worms rutscht nicht nur Drachentöter Siegfried ab, auch andere Helden schwanken. Geschliffene Sprache ersetzt die Schwerter.
Es knirscht gewaltig bei den Nibelungen. Rund 600 Tonnen Kies türmen sich auf der Festspielbühne vor dem Kaiserdom. Für Drachentöter Siegfried, seinen Mörder Hagen und das restliche Personal der intrigenreichen Sage ist kein sicherer Stand möglich – die kleinen Körner geben bei jedem Schritt knirschend nach. Auch sonst bleibt es höchst instabil im Stück „See aus Asche“ der diesjährigen Nibelungen-Festspiele in Worms.
Autor Roland Schimmelpfennig, einer der meistgespielten Gegenwartsdramatiker Deutschlands, entreißt das mittelalterliche Epos der Vergangenheit und präsentiert eine der wohl größten deutschen Erzählungen als wortgewaltiges Drama. In drei Stunden Spielzeit inklusive Pause zeigt „See aus Asche“ das Nibelungenlied in voller Länge – bis zum bitteren Ende.
Ein Blick zurück nach vorn
Bei langsam verglühendem Abendlicht prallen die Lebenswelten mit Wucht aufeinander. Weiße Plastikstühle stehen in der Kieslandschaft, in einer trägen Wasserfläche spiegelt sich flirrend der Dom (Bühnenbild: Andrea Wagner). Mauersegler quietschen, in der Ferne schrillt ein Martinshorn.
Die Handlung ist bekannt. Aber Schimmelpfennig erzählt sie radikal neu. Siegfried missbraucht zusammen mit König Gunther die Königin Brunhild und erringt so Gunthers Schwester Kriemhild. Ein Streit der Frauen führt zu Siegfrieds Ermordung durch Hagen. Aus Rache lockt Kriemhild ihre Verwandten an den Hof von Hunnenkönig Etzel und lässt fast alle töten.
Jasmin Tabatabai, in den Nullerjahren schon einmal in Worms, spielt eine stolze Brunhild, die nicht bloß Opfer sein will. „Ich fordere Rache, und ich werde sie bekommen“, ruft sie stark, als die sexualisierte Gewalt öffentlich wird.
Wolfram Koch, bekannt einst als Ermittler aus dem Frankfurt-„Tatort“, verkörpert Hagen. Mit blindem linkem Auge irrlichtert er zwischen den Kiesbergen: „Hast du geglaubt, es gibt Abenteuer ohne Bosheit?“ Koch spielt Hagen als loyalen Mörder, der lieber tötet als zweifelt. Was früher vielleicht Heldentum war, zeigt sich in dem Stück als (halb)blinde Gefolgschaft.
Sprechtheater auf hohem Niveau
Regisseurin Mina Salehpour inszeniert das Drama als düsteres Sittengemälde des Nibelungen-Mythos, allerdings ohne Blut- und Schwertästhetik. Sie folgt darin der Vorlage von Schimmelpfennig: Der Autor lässt die Figuren ihr Tun beschreiben, kommentieren und zitieren, sie treten ab und zu aus sich heraus und albern auch einmal herum.
Das ist anders: Diesmal ist es Sprache und nicht bildliche Dramatik, die den Mittelalterthriller nach vorn pusht. Sprechtheater auf hohem Niveau – in „See aus Asche“ ist das Publikum aufgefordert, Lust zu haben am Zuhören. „Das Publikum muss mitarbeiten, mitdenken, okay“, meint Schimmelpfennig. Auf diese Weise kreiere jeder seine eigene Erzählung. „Die Sprache erschafft eine Form von unsichtbarem Kino.“
Kriemhild Hamann brilliert als rachedurstige Kriemhild. Siegfried badet im Drachenblut, nackt bis auf die Unterhose (sehr inspiriert: Eivin Nilsen Salthe). Der Drache? Unsichtbar. Gespielt von Tabatabai, als Projektion, nicht als Monster. Lisa Natalie Arnold verkörpert wandlungsfähig das Blatt, das beim Blutbad eine Stelle im Nacken verdeckt und so Siegfried verwundbar macht.
Kartenverkauf ist „eine Sensation“
Von den rund 1.400 Premierengästen, darunter Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) und der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Alexander Schweitzer (SPD), gab es viel Applaus. Erstmals seit dem Gründungsjahrgang 2002 waren alle Vorstellungen schon vor der ersten Aufführung ausverkauft.
„Der grandiose Kartenverkauf ist schlichtweg eine Sensation“, meint Intendant Nico Hofmann. „Einen schöneren Vertrauensbeweis kann es gar nicht geben.“ Worms spielt im historischen Nibelungenlied eine zentrale Rolle – es ist ein wichtiger Schauplatz und eng mit Handlung und Figuren verbunden.
Am Ende des Stücks schießen Flammen aus dem Wasser, und Gieselher (ein facettenreicher Denis Geyersbach) ruft Unheil ahnend: „Dies ist kein Fest, dies ist Krieg.“ In Worms, einer der ältesten Städte Deutschlands, ist „See aus Asche“ noch bis 27. Juli zu sehen.