
Ja, es wurde schon viel über Björn Höcke geschrieben. Doch wer die Wirkmacht des Rechtsextremisten verstehen will, sollte das Buch von Frederik Schindler lesen. Es muss ja nicht im Urlaub sein.
In den vergangenen Jahren ist es mir zur leidigen Angewohnheit geworden, in jenen deutschen Orten, in denen ich mich gerade aufhalte, die lokalen Wahlergebnisse zu ergoogeln, um sie abzugleichen mit meinem Viertelwissen und der dumpfen, von der jeweiligen Gegend in mir ausgelösten Ahnung. Es ist immer eine traurige Wette mit mir selbst.
Diese Woche etwa, auf Rügen, zwischen Bodden, Meer und Zicker Bergen, wo es hübscher und touristisch wertvoller kaum sein kann, guckte ich also sogleich in mein Telefon, und die jüngsten Abstimmungsdaten entsprachen der begründeten Annahme. Die Insel-AfD hatte bei der Bundestagswahl mehr als 40 Prozent erreicht. Na also. Da kann Gelsenkirchen einpacken.
Ich nahm die Zahl ebenso zur Kenntnis, wie ich die immer bedrückenderen Kriegsnachrichten aus Gaza und der Ukraine zur Kenntnis nehme. Oder den nächsten Angriff von Donald Trump auf die US-Verfassung. Oder die russischen Drohnen über Polen. Oder die Implosion der was weiß ich wievielten Regierung in Paris.
Erfreulicherweise wirkte der Strand zwischen Thiessow und Göhren völlig unbeschadet von den Fährnissen dieser Welt. Die Wellen rauschten, die Möwen schrien und im Tang fand ich so wie vor fünf, zehn, 15 oder 20 Jahren ausschließlich Quallen und keinerlei Bernsteine. Neu war nur, dass ich auf dem Radweg hinter der Düne schwer aufpassen musste, um nicht von elektroradelnden Senioren umgerast zu werden. Ich schaute ihnen hinterher und sann darüber nach, wann wohl ich dazugehören würde.
Eine der Versprechungen des Zivilisationskonstrukts Urlaub ist, dass der Mensch auf diese Weise nicht nur seiner Erwerbsarbeit, sondern auch der mentalen Überforderung, die dieses Leben inzwischen darstellt, für eine kleine Weile entrinnen könne. Dazu gehört dann allerdings als erste Urlaubsregel: Schau nicht ins Telefon!
Oje.
Kaum war ich das erste Mal durchs trübe Ostseewasser geschwommen, las ich in diversen Apps, dass jetzt das angekündigte Buch erschienen ist über jenen Mann, über den ich beruflich bedingt sehr viel nachdenken und schreiben musste.
Da ich Frederik Schindler, den Autor des Buches, als „Welt“-Kollegen von politischen Terminen her kenne, und da er mir während seiner Recherche ein paar thüringologische Fragen gestellt hatte, simste ich ihn an und fragte, ob er mir die Druckfahne mailen könnte. Wenig später hatte ich die PDF – und mein schöner Urlaub war dahin. Nicht, weil das Werk nicht lesenswert ist, ganz im Gegenteil. Sondern, weil es meine Entspannung arg behinderte.
Björn Höcke und sein Plan
Denn das Thema des Buchs ist Deutschlands bekanntester Rechtsextremist. Das erste Mal sah ich Björn Höcke leibhaftig im Bundestagswahlkampf im Sommer 2013. Die AfD hatte eine Bühne auf dem Erfurter Anger aufgebaut. Er stand etwas ungelenk auf der Bühne und hielt eine Rede, von der ich nur noch erinnere, dass sie aus Sätzen bestand, die mir damals seltsam verquast und pathetisch erschienen.
Ich hatte bis dahin mit Höcke nur ein paar mal telefoniert, in seiner Funktion als Landeschef eines chaotischen Miniverbandes von etwa 100 Mitgliedern. Es gab außer ihm noch zwei andere Co-Vorsitzende. Aber Höcke schien mir der Einzige zu sein, der so etwas wie einen Plan besaß.
Welchen Plan genau, das wusste ich nicht. Ich kannte ja noch nicht die Texte, die er mutmaßlich unter dem Pseudonym „Landolf Ladig“ in rechtsextremistischen Blättern veröffentlicht hatte. Ich hatte keine Ahnung davon, dass er 2010 zusammen mit Neonazis in Dresden aufmarschiert war. Und ich ahnte erst recht nicht, dass mir der nationale Sozialismus des 21. Jahrhundert in Gestalt eines aus Hessen immigrierten Geschichts- und Sportlehrers erschienen war.
Was ich allerdings sofort merkte: Höcke war anders. Ich empfand ihn als merkwürdig deplatziert im kleinen thüringischen Politikbetrieb, mit seiner manierierten Sprache und seinen verquast formulierten Ideen. Er wirkte auf mich wie jemand, der sich um ein Jahrhundert vertan hatte.
Aber so war es nicht. Höcke sah sich offenkundig dazu auserwählt, den Untergang des sogenannten Abendlandes aufzuhalten. Die neue Partei, mit der er sich in die schmutzigen Niederungen der Politik begab, sollte ihm dabei nur als das von ihm verachtete Mittel zum Zweck dienen. Wenn er rief, dass die AfD die „letzte evolutionäre Chance“ Deutschlands sei, dann meinte er immer und zuerst sich selbst.
Nach und nach begriff ich, dass Höcke jener Typus Idealist ist, der mir Angst macht. Höcke wähnt sich völlig ironiefrei als Retter der Deutschen, halb Barbarossa, halb Bismarck. Als Enkel von Kriegsvertriebenen will er nicht einfach das deutsche Reich zurück oder Hitler kopieren. Er will den Zivilisationsbruch historisch überwinden und damit ungeschehen machen. Das ist die erinnerungspolitische 180-Grad-Wende, von der er spricht.
Höcke drängt zurück in eine Zukunft, die es nie gab oder geben wird, in ein nationalromantisches Märchenland mit Burgen und Gründerzeithäusern in lieblichen Landschaften, in denen treue Frauen edlen, von preußischen Tugenden beseelten Männern möglichst viele Kinder gebären, alle weiß und wohlgeraten natürlich. Er selbst sieht sich als Königkaiserkanzler, beraten durch ein Ständeparlament. Parteien, einschließlich der AfD, braucht es dann nicht mehr.
Es ist verführerisch, Höckes narzisstische Selbstüberhöhung lächerlich zu finden. Die philosophisch aufgeschäumte Ideologie, die er zur nationalen Mission verklärt. Den Personenkult, den er mit einer larmoyanten Opfererzählung paart. Das kitschig-virile Pathos, mit dem er Xenophobie und Homophobie zu bemänteln versucht. Die anbiedernde Vereinnahmung von dem, was er als ostdeutsch deklariert.
Das alles wirkt manchmal wirklich komisch. Aber mir ist längst nicht mehr zum Lachen zumute. Als die AfD 2014 in den Thüringer Landtag einzog und ich sah, wie Höcke zum ersten Mal den extremen Demagogen aus sich heraus ließ, um ihm später, im sogenannten Flüchtlingsherbst, auf den Erfurter Plätzen auszuführen: Da bekam ich Angst.
Alexander Gauland (l.), damals Spitzenkandidat in Brandenburg, und Björn Höcke, Spitzenkandidat in Thüringen, 2014 bei einer Pressekonferenz der AfD
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Diese Angst hat sich seitdem mehrfach verstärkt und vervielfältigt. Höcke hatte nie eine Funktion in der Bundespartei oder besaß größeren Einfluss im Bundestag. Aber das musste er auch nicht. Er prägte die AfD auch so, mit Parteitagsanträgen, mit Personalintrigen, mit weitläufigen Netzwerken wie dem „Flügel“. Er machte auf diese Weise die Partei mit zu dem, was sie heute überwiegend ist: rechtsextrem.
Das alles und mehr lässt sich in großer Dichte im Buch von Frederik Schindler nachlesen. Wer wissen will, wie Höcke wurde, was er ist, wie sein Denken und seine Propaganda funktionieren und wie er es schaffte, die AfD von hinten mitzuformen, der sollte dieses Buch lesen. Obwohl ich mich seit mehr als einem Jahrzehnt mit Höcke beschäftige, habe ich nicht nur vieles erinnert, sondern auch vieles hinzugelernt.
Frederik Schindler: Höcke: Ein Rechtsextremist auf dem Weg zur Macht. Die AfD und ihr gefährlichster Vordenker. Herder-Verlag, 22 Euro
Gut möglich, dass die Zeit über Björn Uwe Höcke hinweggeht. Klappt es in vier Jahren wieder nicht mit der Erfurter Staatskanzlei, verkommt er wohl endgültig zum Handlungsreisenden seiner eigenen, extremen Marke.
Für die Partei, die eigentlich sein Machtvehikel sein sollte, hätte er dann seine Schuldigkeit getan. Doch die Angst, sie wird bleiben.